Nach der Urlaubszeit werden wir wohl wieder Geschichten des Kalibers „Du glaubst nicht, wen ich im Urlaub auf Mallorca getroffen habe!“ hören. Dabei wird uns ein Bekannter erklären, dass er unsere gemeinsame Bäckerin in einem Hotel einer Touristenhochburg getroffen hat. Außerdem wird er fragen, wie groß wohl die Wahrscheinlichkeit ist, dass so etwas passiert. Kaum möglich, oder?

Ein mächtiger Denkfehler

Die meisten Menschen glauben, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses so klein ist, weil ausgerechnet dieser eine Mensch auf ausgerechnet diesen anderen Menschen getoffen ist. Und dass beide gerade an diesen einen Ort reisen, lässt die Sache zusätzlich unwahrscheinlich erscheinen. Bei 4,1 Mio. Urlaubern aus Deutschland, welche jährlich die Balearen bereisen, machen die Menschen im Kopf wahrscheinlich folgende Rechnung auf.

\displaystyle P=P_{Person A} \cdot P_{Person B} \cdot \big(P_{Mallorca}\big)^{2}=\frac{1}{80\cdot 10^{6}} \cdot \frac{1}{80\cdot 10^{6}} \cdot \left(\frac{1}{20}\right)^{2}

\displaystyle P \approx 0.0000\dots

Allerdings ist dies fehlerhaft, weil diese Rechnung auch für alle anderen erdenklichen Kombinationen von Bekannten aufgemacht werden muss – beispielsweise wenn der Bekannte die Fleischverkäuferin oder einen anderen Freund getroffen hätte. Und es gibt sehr viele solcher denkbaren Paarungen.

Moderater Bekanntenkreis, große Wirkung

Das zufällige Zusammentreffen mit anderen Menschen ist ein binomialer Prozess. Eine Person trifft auf n_t  andere Personen. Mit der Wahrscheinlichkeit p   handelt es sich bei einem einzelnen Zusammentreffen um einen Erfolg – also ein Treffen mit jemandem aus dem Bekanntenkreis. Der Erwartungswert einer binomial verteilten Zufallsgröße ergibt sich als Produkt aus Anzahl der Ereignisse und der Erfolgswahrscheinlichkeit:

\displaystyle E=n_{t} \cdot p

In eurem Bekanntenkreis pflegt ihr gelegentlichen bis häufigen Kontakt zu n_{b}  Personen. Um Dopplungen zu vermeiden, kann die erste Person n_{b}-1  andere potentielle Bekannte von euch treffen, während der nächste nur noch n_{b}-2  andere Bekannte treffen kann. Tatsächlich handelt es sich hier um eine Vereinfachung, da die Abnahme von den Treffern der Vorgänger abhängt. Für kleine p  sollte diese Näherung jedoch hinkommen. Wir bilden also die Summe über alle eure Bekannten und ersetzen die Wahrscheinlichkeit p  durch das Verhältnis zwischen noch verfügbaren Bekannten und Gesamtzahl der N  der Menge möglicher Treffen (z. B. Urlauber einer Region):

\displaystyle E=n_{t} \sum\limits_{i=0}^{n_{b}-1}{\frac{n_{b}-i}{N}}=\frac{n_{t}}{N} \sum\limits_{i=1}^{n_{b}}{i}

Durch Vereinfachung mittels Gaußscher Summenformel erhalten wir diese simple Formel für den Erwartungswert:

\displaystyle E=\frac{n_{t} \cdot n_{b} \cdot (n_{b}+1)}{2 \cdot N}

Beispiel Balearen

Die Herausforderung besteht nun im Schätzen der Parameter n_{t}, n_{b}  sowie N. Wenn wir auf den Zeitraum eines Jahres schauen, können wir für N  die oben angeführten ca. 4 Mio. annehmen. Die Zahl der Kontakte eures Bekanntenkreises n_{b}  hängt natürlich von euch ab, aber man darf die Menge an Kollegen, Freunden und Mitgliedern der eigenen Familie nicht unterschätzen. Ich komme auf ca. 300 dieser Kontakte. Natürlich reisen nicht alle meine Bekannten auf die Balearen. Wenn wir das Verhältnis von 4 Mio. Reisenden zu 80 Mio. Einwohnern Deutschlands übertragen, erhalten wir n_{b}=15. Und wieviele Deutsche trifft man ungefähr im Urlaub auf den Balearen? In Anbetracht der Tatsache, dass in einzelnen Hotels mitunter locker 1000 Gäste unterkommen, schätze ich mindestens n_{t}=2000, was jedoch von Dauer und Umfang (Besuche auf Märkten, Tanzveranstaltungen, etc.) der individuellen Reisen abhängt. Setzen wir also in die Formel ein:

\displaystyle E=\frac{n_{t} \cdot n_{b} \cdot (n_{b}+1)}{2 \cdot N}=\frac{2000 \cdot 15 \cdot 16}{2 \cdot 4\cdot 10^{6}}=0,06

Zur Interpretation: Es sind 0,06 Treffen pro Jahr unter 5% der Bekannten zur Erwarten. Bei einer Hochrechnung würden wir – unter Berücksichtigung der übrigen 95% des Bekanntenkreises – wohl etwa auf einen Erwartungswert von 1 kommen. Es ist also ganz und gar nicht überraschend von derartig „unwahrscheinlichen“ Treffen zu hören!

Annahmen

Die hier vorgestellte Berechnung basiert auf einigen Annahmen. Wir gehen davon aus, dass sich die Bekannten in der Regel nicht kennen und unabhängig voneinander in den Urlaub fahren. Außerdem hängen die Wahrscheinlichkeiten sehr von der Größe des Bekanntenkreises und der Heterogenität desselben ab. Große Gruppen mit ähnlichen Reisevorlieben werden sich mit höherer Wahrscheinlichkeit zufällig treffen.

Interessanter ist die Anwendung in einem Raum, der mit weniger Annahmen auskommt. Nehmen wir beispielsweise die Stadt Dresden. Die Einwohner decken bei ihren täglichen Erledigungen große Teile der Stadt ab und sie treffen dabei verschiedene Mitmenschen. Ich habe 100 engere Kontakte, die sich gegenseitig kaum kennen, in dieser Stadt mit 600 000 Einwohnern (aufgerundet). Inzwischen fahren viele Leute mit dem Auto zur Arbeit, sodass wir die Zahl täglicher irregulärer Kontakte wohl eher gering ansetzen müssen – sagen wir 20. Dann erhalten wir:

\displaystyle E=\frac{n_{t} \cdot n_{b} \cdot (n_{b}+1)}{2 \cdot N}=\frac{20 \cdot 100 \cdot 101}{2 \cdot 6\cdot 10^{5}} \approx 0,1683

Bei nur 100 Bekannten treffen erwartungsgemäß wöchentlich zwei unserer Bekannten zufällig aufeinander. Das ist relativ erstaunlich bei einer guten halben Million Einwohner!

Fazit

Jetzt wisst ihr hoffentlich wieder etwas mehr über die Mechanismen, die unser alltägliches Leben bestimmen. So unwahrscheinlich mancher Zufall auch anmutet, so plausibel lässt er sich doch erklären. Oftmals muss hierzu lediglich die Perspektive leicht verändert werden.