In der Mathematik kann man durch Wechsel der Perspektive mitunter sehr hilfreiche Formeln ans Tageslicht befördern. Für den Erwartungswert einer Zufallsvariable X gilt im diskreten Fall:

\displaystyle \mu=E(X)=\sum_{x=0}^{\infty} \Big(1-F(x)\Big)

Und im kontinuierlichen Fall gilt:

 \displaystyle \mu=E(X)=\int_{x=0}^{\infty} \Big(1-F(x)\Big)

Dieser Beitrag erklärt, wie sich diese Formeln herleiten lassen.

Herleitung im diskreten Fall

Gehen wir von der bekannten Formel für den Erwartungswert aus:

 \displaystyle \mu=E(X)=\sum_{x=1}^{n} x p(x)

Offenkundig kann man die Summe für x=0 erweitern, da sich die Summe infolge der Tatsache, dass x \times p(x)=0 \times p(0)=0, nicht ändert:

 \displaystyle \mu=E(X)=\sum_{x=1}^{n} x p(x)

Diese Summe lässt sich zeilenweise in ihre Einzelterme zerlegen und grafisch in Form eines Dreiecks arrangieren.

Grafische Darstellung der Summe, welche den Erwartungswert ergibt: Jede Zeile entspricht einem Term für ein bestimmtes x. Der Erwartungswert entspricht somit der markierten Fläche.

Grafische Darstellung der Summe, welche den Erwartungswert ergibt: Jede Zeile entspricht einem Term für ein bestimmtes x. Der Erwartungswert entspricht somit der markierten Fläche.

Um es nochmals zu betonen: Es werden die Zeilen addiert, wobei die Zeilen aus dem vielfachen der Wahrscheinlichkeit eines Wertes bestehen.

Den Perspektivwechsel vollziehen wir, indem wir statt der Zeilen die Spalten addieren. Die folgende Abbildung illustriert diesen Übergang:

Übergang von zeilenbasierter zu spaltenbasierter Summe: Die Summe, welche dem Erwartungswert entspricht, bleibt gleich, egal ob zeilen- oder spaltenweise addiert wird.

Übergang von zeilenbasierter zu spaltenbasierter Summe: Die Summe, welche dem Erwartungswert entspricht, bleibt gleich, egal ob zeilen- oder spaltenweise addiert wird.

Und wie sieht die alternative Summe nun aus? Der Clou ist, dass die Summe der rechten Spalte 1 ergibt, weil sie aus den Wahrscheinlichkeiten aller Werte der Zufallsvariable besteht. Mit jeder weiteren Spalte nach links fallen Wahrscheinlichkeiten im Umfang der kumulativen Wahrscheinlichkeitsfunktion weg.

Der Erwartungswert entspricht noch immer der Termen der gelb markierten Fläche. Alle Zellen der Spalte ganz rechts zusammengenommen ergeben 1. Mit jeder Spalte weiter links fällt so viel Summe weg, wie die kumulierte Wahrscheinlichkeit F(x) wächst.

Der Erwartungswert entspricht noch immer der Termen der gelb markierten Fläche. Alle Zellen der Spalte ganz rechts zusammengenommen ergeben 1. Mit jeder Spalte weiter links fällt so viel Summe weg, wie die kumulierte Wahrscheinlichkeit F(x) wächst.

Folgt man dem Schema weiter nach links bleibt F(x)=1 für alle x>n und daher tragen die weiteren 1-F(x)=0 nicht zur Summe bei. Wir können die obere Grenze der Summe demnach beliebig bis \infty erhöhen:

\displaystyle \mu=E(X)=\sum_{x=0}^{\infty} \Big(1-F(x)\Big)

Kontinuierlicher Fall

Es finden sich online Beweise, die explizit für die Berechnung des Erwartungswertes kontinuierlicher Zufallsvariablen beschäftigen. Diese haben auch ihre Berechtigung, da sie mithilfe bewiesener Gesetzmäßigkeiten, die Korrektheit folgender Formel belegen:

 \displaystyle \mu=E(X)=\int_{x=0}^{\infty} \Big(1-F(x)\Big)

Für das Verständnis ist es aber sicher sinnvoller, sich vorzustellen, dass man die Formel des vorangegangenen Abschnitts auf unendlich viele unendlich kleine p(x) anwendet. Denn nichts anderes als eine unendlich feine Summe ist ein Integral!